Das 2020 ausgebrannte Geflüchteten-Lager Moria auf Lesbos steht stellvertretend für all die anderen Lager auf vielen der griechischen Inseln und an den Fluchtrouten. In diesen Lagern werden Geflüchtete in menschenunwürdigen Verhältnissen über lange Zeiträume hinweg festgehalten, bis über ihren Antrag auf Asyl entschieden ist.
In Moria lebten zweitweise bis zu 20.000 Menschen, obwohl das Lager eigentlich auf maximal 2.800 Personen ausgelegt war. Die Lebensumstände in Moria und vielen der anderen Geflüchteten-Lagern sind charakterisiert durch unzureichende Nahrungsversorgung, sehr schlechte medizinische Versorgung, katastrophale hygienische Zustände durch einen mangelhaften Zugang zu Sanitäranlagen und überfüllte, oft unbefestigte Unterkünfte. Bei dem Brand 2020 wurden etwa 12.800 Menschen über Nacht ihrer Unterkünfte und ihrem letzten Hab und Gut beraubt.
Moria steht für die wesentliche Strategie der europäischen Abschottungspolitik, Geflüchtete möglichst nah an den EU-Außengrenzen festzuhalten. Das wird politisch durch die sogenannten Dublin-Regeln begünstigt, nach denen jener Staat, in dem Geflüchtete erstmals registriert werden, für die Asylverfahren dieser Geflüchteten zuständig ist. Griechenland als einer der EU-Grenzstaaten ist für viele Geflüchtete zuständig. Durch die Verschleppung von Verfahren und lange Verfahrensdauer sitzen Menschen zum Teil über Jahre in den Geflüchteten-Lagern fest.
Die menschenunwürdigen Zustände in den Lagern sind gewollt und ein bewusstes Element der europäischen Abschottungs- und Abschreckungspolitik. Es handelt sich nicht um eine „humanitäre Katastrophe“, sondern um die Folgen gewollter politischer Entscheidungen.
Weitere Infos:
https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/Fluechtlinge-auf-Lesbos-Die-gewollte-Not,lesbos130.html
https://www.proasyl.de/thema/fluechtlinge-in-griechenland/
https://www.sueddeutsche.de/politik/moria-brand-asylpolitik-1.5025791
Familie Nikpa aus Afghanistan auf Lesbos
Als Isobox werden sie verkauft, auch die Flüchtlinge im Lager nennen die Metallcontainer so. Aber sie isolieren nicht. Im Sommer staut sich in ihnen die Hitze, im Winter die Kälte. Und niemals isolieren sie den Lärm, den Streit und die Spannung, die in der Luft liegen. Die vierköpfige Familie Nikpa aus Afghanistan lebte auf sechs Quadratmetern in einer Isobox in Moria, dem einst größten Flüchtlingslager Europas. In dem Lager auf der Insel Lesbos, das für 2.800 Menschen gebaut wurde, kamen zeitweise 20.000 Menschen unter.
Der 38-jährige Mir Ahmad Nikpa war früher Soldat, Latifah ist 29 und arbeitete in Kabul als Hebamme. Sie gehören der Minderheit der Hazara an und verließen Afghanistan mit ihren beiden Töchtern im Jahr 2017. Viermal wurde ihr Asylantrag in Griechenland abgelehnt, vier Jahre lang lebten sie in Flüchtlingslagern auf Lesbos, die Hälfte der Zeit in Moria.
Dort wohnten sie mit sieben Familien in einem der grauen Container – nur durch eine dünne Wand getrennt von den anderen. Weil es keine Tür gab, hängten sie einen alten Teppich vor ihren Teil der Isobox. „Jeder konnte einfach rein und uns bei allem zusehen“, sagt Latifah.
40 Menschen mussten sich eine Toilette und ein Waschbecken teilen. Vor der Tür schliefen Hunderte weitere Menschen in Zelten, ohne eigene Waschgelegenheit und Toilette. Dreimal täglich standen alle stundenlang für Essen und Wasser an. In Moria gab es Schlägereien, Brände, Messerstechereien. Frauen fürchteten Vergewaltigungen und Kinder Rattenbisse. „Wir waren mit den Kindern fast immer drin, weil wir Angst hatten, dass ihnen draußen etwas zustoßen könnte“, sagen die Nikpas.
Die Nachbarn schrien sich bis spät nachts an, erzählt Latifah. Es gab Streit wegen der Toiletten, wegen des Putzens, wegen allem. „Wir hatten keinen Ort, um Emotionen zu zeigen, um den Stress loszuwerden. Wenn wir uns gestritten haben, saßen wir danach einfach weiter da, weil es keinen Platz gab, irgendwohin auszuweichen“, sagt Latifah. Man blieb also sitzen, bis man müde wurde und entkräftet einschlief, in der Hoffnung, dass es am nächsten Tag wieder gehen würde. „Aber oft konnten wir nicht schlafen, es gab immer wieder Brände, wir hatten Angst.“
Sie sei froh, dass es zwischen ihnen nie zu Gewalt gekommen sei, sagt Latifah. Sie sei stolz, dass sie ihren Mann und die Kinder nie angeschrien habe. Wen man liebt, den will man auch beschützen, sagt Mir Ahmad. Doch das kann er nicht immer. Als die Familie in Moria ankam, hatte sie anfangs noch keine Isobox, sondern nur einen Verschlag aus Planen. Eines Nachts gab es eine Massenschlägerei, Menschen trampelten über sie hinweg, jemand trat Latifah ins Gesicht. Mir Ahmad zeigt auf seinem Handy Fotos, auf denen Latifah mit einem so geschwollenen Gesicht zu sehen ist, dass man sie kaum wiedererkennt.
Zunächst erhielten die Nikpas 240 Euro im Monat. Bald wurde ihr erster Asylantrag abgewiesen. Danach gab es kein Geld mehr. Mir Ahmad konnte seinen Kindern keine Wünsche erfüllen. An der Hafenpromenade der Inselhauptstadt Mytilini verkauften Händler*innen bunte Ballons, Bäcker*innen boten Baklava an, und in den Cafés gab es Eis. „Dein Kind sieht andere Kinder, die das alles bekommen. Aber Du hast kein Geld. Was sagt man dann? ‚Sei still?‘ Es fühlt sich so schlecht an.“
Auch ihr zweiter, dritter und vierter Asylantrag wurden abgelehnt. Mir Ahmad sagt, er habe deshalb psychische Probleme bekommen. Nach der zweiten Ablehnung verschrieben Ärzte ihm Medikamente. Doch eine Packung kostete 40 Euro, und die hatte er nicht. Sieben Monate ist es her, dass er das Medikament zum letzten Mal von einer Hilfsorganisation bekam. Wenn Latifahs Kopfschmerzen nicht aufhörten, ging sie manchmal zur Krankenstation von Moria. Doch meist war die Schlange so lang, dass sie wieder umdrehte. Wenn sie drankam, sagten die Ärzte: „Trink Wasser!“ Ihre Kopfschmerzen bleiben.
Mir Ahmad ist der Cousin von Latifahs Mutter, so lernten sie sich kennen und heirateten 2010. Latifah war damals 17, in Afghanistan gilt das für eine Braut schon als alt, Mir Ahmad war 26. Sie zogen nach Kabul, er ging zur Armee, sie machte eine Ausbildung als Hebamme. „Wir wollten nicht weg“, sagt Latifah. Doch die Taliban verschleppten erst Mir Ahmads Bruder, dann seinen Vater. Danach wollten sie „nur noch weg“.
Im September 2020 brannte das Lager in Moria ab. Die Bewohner*innen wurden daraufhin in ein neues Lager auf Lesbos gebracht, das „Reception and Identification Centre“. Dort hatten die Nikpas eine Isobox ganz für sich. Sie glaubten an eine bessere Zukunft. Im April 2021 wurde ihre dritte Tochter geboren. Im Mai 2022 hatte ihr fünfter Asylantrag Erfolg. Wohl wegen der Machtübernahme der Taliban änderte Griechenland die Anerkennungspraxis. Doch Mir Ahmad ging es immer schlechter. Eine NGO besorgte ihnen eine kleine Wohnung in Mytilini. Im September 2022 verließ die Familie das Lager. Weil sie kein Geld für den Bus hatten, liefen sie bei 30 Grad kilometerweit die Küstenstraße entlang.
Ihre neue Wohnung liegt an einem Hang oberhalb von Mytilini. Im ersten Stock eines alten Natursteinhauses haben sie zwei Zimmer und eine Küche. Die Nikpas sitzen auf einer Matratze auf dem Boden. Nach fünf Jahren haben sie eine eigene Wohnung. Und nun? „Putzen“, sagt Latifah. „Ich weiß es nicht“, sagt Mir Ahmad. „Wir brauchen Essen.“
Geld bekommen sie nicht. Zunächst können sie noch Essenspakete im Lager abholen. Mir Ahmad läuft dafür eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Sie sind zwar als Flüchtlinge anerkannt, doch um die Insel verlassen zu können, müssen sie Papiere haben und dafür bezahlen. Das können sie nicht.
(Jakob, 2022)
Literatur
Jakob, C. (2022). Nur wenige Quadratmeter Privatsphäre. https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/afghanistan-flucht-griechenland-lesbos-leben-und-lieben-im-fluechtlingslager-moria